Einen medizinischen Notfall hatten schon viele zu Hause. Da stellt sich schnell die Frage: Welche Nummer muss ich wählen? Und, ist es tatsächlich ein Notfall oder doch übertrieben? Das ist oft schwer zu beurteilen. Die Angst, etwas falsch zu machen, wiegt schwer und so wendet man sich hilfesuchend an die Experten unter 112 oder 116 117 (den hausärztlichen Notdienst), ggf. auch direkt an das nächste Krankenhaus. Dort sollte man doch die richtige Antwort bekommen oder an die zuständige Stelle weiterverbunden werden. Theoretisch. Praktisch funktioniert eine solche Patientensteuerung aber nicht. Die Notfallhilfe gleicht einem Blindflug.
November 2021 in Baden-Württemberg
22:00 Uhr: Ein Patient (92 Jahre, Pflegegrad 5, Demenz und Parkinson) wird von seinen Angehörigen gepflegt. In den letzten Stunden hat sich eine Wunde sehr verschlechtert. Die Familie befürchtet die Gefahr eine Sepsis und kommt zu dem Schluss, dass die Wunde dringend begutachtet werden sollte. Leider ist der Hausarzt im Urlaub.
Welche Optionen gibt es?
Die erste Überlegung ist, ob man den kranken Vater nicht direkt in die Notaufnahme ins Krankenhaus bringt. Unsicherheit macht sich breit, denn es ist schwer abzuschätzen, wie lange man dort auf Versorgung warten muss. Hinzu kommt, dass der Kranke ohne professionelle Hilfe schwer zu transportieren ist. So ruft die Familie in der Notaufnahme an und erkundigt sich, wie die Lage eingeschätzt wird. Antwort: „Schwer zu sagen.“
Der Stresslevel steigt. Hilfesuchend wenden sich die Angehörigen an die 112. Da es sich gemäß deren Einschätzung nicht um einen Notfall handelt, wird man an die Rettungsleitstelle weiterverbunden. Von dort kommt die Info, dass man einen Krankentransport schicken wird, was allerdings zwischen 3 bis 5 Stunden dauern wird.
22:30 Uhr: Das Warten ist unerträglich. Noch immer ist die Situation unklar und ungewiss, ob es die richtige Entscheidung ist, so lange zu warten. Die Angehörigen versuchen es über den ärztlichen Bereitschaftsdienst, der sich auch die Wunde anschauen könnte. Auf diesem Wege wäre ein Transport überflüssig. Man wählt die 116 117.
22:50 Uhr: Nach 20 Minuten Wartezeit in der Leitung nimmt endlich jemand ab. Eine Abfrage per Fragebogen ergibt: Ja, es soll ein Arzt kommen. Wartezeit voraussichtlich 2 – 4 Stunden.
01:00 Uhr: Der Krankentransport kommt. Über die 116 117 versuchen die Angehörigen erneut der Arzt zu erreichen, aber die Leitung ist belegt. Da niemand erreichbar ist, wird der Vater nun per Krankentransport ins Krankenhaus gebracht.
01:30 Uhr: Die Ärztin kommt zum Wohnhaus der Familie, wo niemand mehr anzutreffen ist.
06:30 Uhr: Nach Versorgung des Vaters im Krankenhaus wird dieser per Krankentransport nach Hause gebracht.
Die Koordination des Rettungseinsatzes ist fehlgeschlagen, da es keine Steuerung innerhalb der Rettungskette gab und die Entscheidungen den überforderten Angehörigen überlassen wurde.
Aus Sicht der Angehörigen ist es völlig nachvollziehbar, dass man in solchen Stress-Situationen versucht, einen schnellen Expertenrat zu bekommen, um in der Notlage die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Wer lange nicht durchkommt oder unklare Ansagen bekommt, bleibt unsicher. Wie funktioniert das System? Wer ist zuständig? Was ist richtig?
Kann es der korrekte Weg sein, dass sich der Angehörige den Weg durch das Dickicht des Notfalleinsatzes selbst bahnen muss? Kann es angehen, dass es zu Fehleinsätzen kommt und keiner weiß, was der andere in der Kette tut?
Die Leitstellen sollen zentral gesteuert und miteinander vernetzt sein. So übernimmt die erste Kontaktperson – egal bei welcher Nummer die betroffene Person anruft – von Anfang an die Koordination und steuert die Abläufe im Hintergrund. Die Ansprechperson erklärt dem Betroffenen die Prozesse, begleitet den Notfall telefonisch und kümmert sich um die Steuerung der Abläufe.
So werden fehlgeleitete Anrufe und unnötige Einsätze des Rettungsdienstes vermieden, personelle Ressourcen medizinischer Fachkräfte geschont und Angehörige psychologisch massiv entlastet.
Ja! Die Österreicher leben uns bereits ein erfolgreiches Modell durch eine aktive Patientensteuerung vor, in dem genau das umgesetzt wurde.
Aus Sicht der Björn Steiger Stiftung sollte sich Deutschland an solchen Modellen orientieren und hier dringend nachjustieren. Das ist einer der Punkte, die wir z.B. am neuen baden-württembergischen Rettungsdienstgesetz kritisieren, welches am 02.08.2024 verabschiedet wurde. Details hierzu findet ihr hier
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