Die im baden-württembergischen Winnenden ansässige Björn Steiger Stiftung bereitet derzeit eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor. Auslöser und Gegenstand der Beschwerde ist die Neuregelung des baden-württembergischen Rettungsdienstgesetzes, das der Landtag am 17. Juli 2024 verabschiedet hatte und das am 02.08.2024 in Kraft trat. Nach Ansicht der Stiftung kommt das Land seiner Pflicht zur Wahrung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger nur ungenügend nach, da die Zuständigkeiten und Strukturen bei Notfällen nicht umfassend geklärt sind und auch weiterhin nicht internationalen Standards entsprechen. Die Stiftung bemängelt, dass fehlerhafte Vorgaben und vollkommen veraltete Organisationsstrukturen seit Jahren die Überlebenswahrscheinlichkeit von lebensbedrohlich Erkrankten in Baden-Württemberg senken. Das im Juli verabschiedete Gesetz zementiere diese Entwicklung.
Aus dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1) folgt ein verfassungsrechtlicher Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf ein funktionierendes Rettungsdienstsystem. „Wie das Rettungsdienstgesetz diesen grundrechtlichen Anspruch gewährleisten will, ist völlig unklar. Alles Wesentliche wird offengelassen oder ist unzureichend geregelt“, sagt Prof. Dr. Andreas Pitz, ehemaliger Richter und Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Hochschule Mannheim.
Nur in Baden-Württemberg verwalte sich der Rettungsdienst selbst. Dabei sei unklar, wie der Staat sicherstellen will, dass die Bürgerinnen und Bürger innerhalb der erforderlichen Frist bei Notfällen gerettet würden. „Das meiste wird dem Innenministerium und den Hilfsorganisationen ohne gesetzliche Vorgaben frei überlassen“, so Pitz. Viele Menschen seien
mittlerweile der Auffassung, dass sie „nicht nach dem neuesten Stand der Wissenschaft und Technik“ gerettet würden.
Auch der Präsident der Björn Steiger Stiftung sieht die gesetzlichen Regelungen kritisch. „Das neue Gesetz ist das erste in einem Land, in dem der Staat 20 Prozent der Herzinfarktpatienten faktisch als nicht ‚rettbar‘ erklärt und somit von vornherein mit einer planerischen ‚Sterbequote‘ von 20 Prozent kalkuliert und dies sogar gesetzlich verankert,“, sagt Pierre-Enric Steiger. Es könne nicht sein, dass in einem Gesetz festgelegt sei, dass nur 80 Prozent der Herzinfarktpatienten innerhalb der medizinisch notwendigen Frist von einer Stunde medizinisch adäquat versorgt werden müssten. „Bei einem solchen Gesetz sterben jeden Tag Menschen alleine wegen der gesetzlichen Planungsvorgaben. Dagegen werden wir als Stiftung Verfassungsbeschwerde erheben, weil das mit der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Staates auf keinen Fall im Einklang stehen kann“, betont der Stiftungspräsident.
Darüber hinaus ist dieses Gesetz nach Steigers Ansicht „alles andere als innovativ und zeitgemäß“. Die meisten Regeln klängen zwar für Laien gut und schlüssig; moderne Strukturen nach internationalem Standard sähen inzwischen aber völlig anders aus. „Diese sind sehr viel komplexer und einheitlicher gestaltet als in Deutschland. Die deutsche und somit auch die in Baden-Württemberg bestehende Struktur entspricht weiterhin derjenigen aus den 1970er Jahren und gleicht international inzwischen einer Struktur von Entwicklungsländern“, so Steiger.
Leidtragende und Opfer dieses Gesetzes seien neben den Notfallpatienten auch die Mitarbeiter im Rettungsdienst: „Diesen gibt das Gesetz keinen rechtssicheren Rahmen für ihre Berufsausübung und keine auf die Zukunft gerichtete Struktur und Entwicklungsmöglichkeit.“ Auch hinsichtlich der Planungen der Einsatzfahrzeuge liegt in Baden-Württemberg nach Ansicht des Vorstands des Notarztnetzwerks HonMed eG einiges im Argen: „Die Planungskriterien für das Notarzteinsatzfahrzeug sind entweder völlig unzureichend oder fehlen gänzlich. Das führt insbesondere im ländlichen Raum dazu, dass mit dem Wegfall eines kurzfristig verfügbaren Notarztes gerechnet werden muss”, sagt Dr. med. Christian Strunz.
Erst kürzlich hatte ein durch die Björn Steiger Stiftung in Auftrag gegebenes Gutachten für bundesweite Beachtung gesorgt. Kernaussage dieses Gutachtens des früheren Bundesverfassungsrichters Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio ist, dass der Staat unter anderem dazu verpflichtet sei, ein funktionierendes System des Rettungsdienstes zur Verfügung zu stellen. Zudem müssten hier „harmonisierende Qualitätsvorgaben gelten und stärkere Standards formuliert werden.“ Der Staat müsse seiner Schutzpflicht gegenüber den Bürgern noch mehr nachkommen. Dies sei mit einer gesundheitlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz unterlegt, heißt es in dem Gutachten.
Die Björn Steiger Stiftung hat mit der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft in Düsseldorf, SammlerUsinger in Berlin und Oppenländer in Stuttgart drei bundesweit namhafte Kanzleien beauftragt, gemeinsam eine umfassende und fundierte Verfassungsbeschwerde gegen das
Rettungsdienstgesetz des Landes Baden-Württemberg auf den Weg zu bringen. Ergänzt wird das Team aus Verfassungsrechtlern durch die beratende Fachexpertise von Prof. Dr. Andreas Pitz. Der Verfassungsbeschwerde durch die Björn Steiger Stiftung haben sich bis jetzt auch die Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher Notärzte (AGSWN), der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst (DBRD), das Notarztnetzwerk HonMed eG sowie die IG Privater Rettungsdienst Baden-Württemberg angeschlossen.
Mit der geplanten Verfassungsbeschwerde sieht sich die Björn Steiger Stiftung ihrem Stiftungszweck und ihrer Tradition verpflichtet, sich für das bestmöglich Machbare zum Wohle des Notfallpatienten – notfalls auch mit juristischen Mitteln – einzusetzen. Bereits 1973 verklagte Stiftungsgründer Siegfried Steiger das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik Deutschland vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart auf vorsätzliche unterlassene Hilfeleistung und erreichte damit die bundesweite Einführung der Notrufnummern 110 und 112.
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